Gewaltenteilung

2.1 Rechtsstaat als Typ

Heute kann davon ausgegangen werden, dass bestimmte Elemente vorhanden sein müssen, damit ein Staat als Rechtsstaat betrachtet werden kann. In Bezug auf Aspekte der staatlichen Organisation (sog. formaler Rechtsstaat) geht es in erster Linie um die Gewaltenteilung, die Unabhängigkeit der Justiz, die Notwendigkeit eines rechtsbasierten Verwaltungsverhaltens und den Rückgriff auf die Gerichte gegen Regierungsakte. Diese Elemente sind jedoch eng mit materiellen Angelegenheiten verbunden. Ein materieller Rechtsstaat bezieht sich auf einen Staat, der die Sicherung der Gerechtigkeit durch rechtskonforme Handlungen seiner gesetzgebenden Körperschaften anstrebt, d. h. gesetzgeberische Erlasse müssen das übergeordnete Verfassungsrecht respektieren. In jüngerer Zeit umfasst der Begriff des materiellen Rechtsstaates die verfassungsmäßige Garantie der individuellen Rechte, einschließlich der Grund- und Menschenrechte. Im Mittelpunkt all dessen steht die Notwendigkeit, dass die Regierungsgewalt an das Gesetz gebunden ist. Daher ist die Unterscheidung zwischen formalem und materiellem Rechtsstaat nur grob, und die folgenden drei Aspekte können die allgemein anerkannten Bestandteile des Rechtsstaates besser veranschaulichen. Der Rechtsstaat formuliert Anforderungen an die Verfassung; Der Rechtsstaat ist ein Staat, dessen Ziel die Verwirklichung der Menschenwürde ist; und der Rechtsstaat formuliert Anforderungen an die Verfassung des Rechts im Allgemeinen (nicht nur des Verfassungsrechts).

Die Idee des Rechtsstaates impliziert den Vorrang der Verfassung vor anderen Gesetzen. Die gesetzgebende Gewalt ist ebenfalls gesetzlich gebunden, in der Tradition der meisten Staaten durch ein Verfassungsinstrument, d. H. Eine schriftliche Verfassung, obwohl dies kein notwendiges Merkmal ist. Die Bindung der gesetzgebenden Gewalt durch übergeordnetes Recht bedeutet nicht, dass Gesetze zur Änderung der Verfassung nicht verabschiedet werden dürfen. Ein Rechtsstaat zeichnet sich jedoch dadurch aus, dass er jede Änderung seiner Verfassung formalisiert und Hindernisse für seine Änderung errichtet, in der Regel durch besonders verstärkte Mehrheiten. Eine rechtsstaatliche Verfassung wird auch gegen Verfassungsänderungen geschützt, indem – im Falle schriftlicher Verfassungen – festgelegt wird, dass Änderungen ausdrücklich im Text vorgenommen werden müssen, d. H. Durch Änderung des Wortlauts selbst oder des Anhangs zum Verfassungsdokument. Dies vermeidet die Überschreitung der Grenzen der Verfassung und verhindert Verwirrung, die durch die Koexistenz von Texten gleicher Rechtsstellung verursacht werden kann. Ein Rechtsstaat verlangt nicht, dass eine Verfassung vorgibt, einige besonders wichtige Bestandteile oder wesentliche Elemente als unveränderlich zu erklären und sie so auf Dauer zu fixieren, obwohl dies in der Tat in einigen Verfassungen geschehen ist.

Die Unterscheidung zwischen übergeordnetem Verfassungs- und sonstigem Recht im Rechtsstaatsbegriff hat in Konfliktfällen den Vorrang des übergeordneten Rechts zur Folge. Mit dem übergeordneten Recht unvereinbares Recht ist nichtig oder nach Möglichkeit verfassungskonform auszulegen. Rechtsstaatliche Verfassungen legen häufig fest, welches Gericht befugt ist, mit bindender Wirkung über die Verfassungsmäßigkeit oder Verfassungswidrigkeit des gewöhnlichen Rechts zu entscheiden, um die Autorität des Gesetzes vor denjenigen zu schützen, die es anwenden (Exekutive oder Judikative) Zweige der Regierung), die sonst versucht sein könnten, die Anwendung des Gesetzes zu vermeiden, indem sie seine Verfassungswidrigkeit geltend machen. Es gehört zur Logik eines Rechtsstaates, dass unter anderem aus diesem Grund Sondergerichte für verfassungsrechtliche Angelegenheiten geschaffen werden; dies ist jedoch kein wesentliches Element eines Rechtsstaates, solange andere Gerichte für die Wahrung der Verfassung zuständig bleiben und ihren Vorrang vor dem gewöhnlichen Recht wahren.

Die klassische Gewaltenteilungslehre, die zwischen Legislative, Exekutive und Judikative unterscheidet, bildet den Kern des modernen Rechtsstaatsbegriffs. Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass diese Unterscheidung nur eine grundlegende ist, wobei die Schaffung von Rechtsnormen durch die Exekutive oder Verwaltungsorgane dem Begriff des Rechtsstaates nicht fremd ist. Eine solche Schaffung von Rechtsnormen braucht jedoch rechtliche Grenzen: Gesetze, die nicht vom Parlament erlassen werden, sind in einem Rechtsstaat nur dann akzeptabel, wenn das Organ, das solche Gesetze schafft, selbst ausreichend legitimiert ist. Wenn solche Gesetze Rechte und Pflichten von Einzelpersonen schaffen, muss ihre Schaffung durch ein Gesetz der parlamentarischen Legislative gesichert werden. Dies wiederum erfordert einen hinreichend definierten Umfang der so delegierten Gesetzgebungsbefugnis – das Parlament darf seine primäre gesetzgeberische Verantwortung nicht summarisch und uneingeschränkt auf andere staatliche Stellen oder sogar private normbildende Institutionen übertragen. Rechtsstaat fordert auch, dass politische Parteien — als Vereinigungen, die politische Macht erlangen sollen und die sich legitimerweise auch an bestimmten Gruppeninteressen orientieren – außerhalb des Bereichs der Regierungsgewalt platziert werden.

Eine rechtsstaatliche Verfassung gibt vor, grundlegende Wertentscheidungen über die Organisation des Staates zu treffen — aber nur des Staates: Sie gibt nicht vor, eine umfassende Regulierung der Gesellschaft als Ganzes zu erreichen. Im Gegenteil, eine solche Verfassung lässt Raum für Entscheidungen. Ebenso wird es Raum für die Wahl des gewöhnlichen innerstaatlichen Rechts lassen, das der Verfassung entsprechen muss, ohne jedoch von ihr vorgegeben zu sein. Die Gesetzgebung und Anwendung von Gesetzen läuft nicht auf die bloße Umsetzung einer Verfassung hinaus. Die Verfassung eines Staates wird es uns nicht erlauben, vorherzusagen, wie sich politische Prozesse inhaltlich entwickeln werden. Das schränkt Verfassungsgerichte oder andere mit dem Verfassungsschutz betraute Stellen ein — Auslegung der Verfassung bedeutet für sie, ihre Offenheit zu berücksichtigen. Die Wahrung der Verfassung bedeutet also, zu erkennen, wo sie strenge Grenzen zieht und wo sie Raum für Wahl und Entwicklung lässt. Moderne Verfassungen verwenden charakteristisch allgemeine Begriffe, die das Vorrecht gesetzgeberischer Entscheidungen implizieren können, die noch getroffen werden müssen. Die Verfassungsrechtsprechung in einem Rechtsstaat trägt zwar politische Züge, bleibt aber auf die Rückverfolgung der bereits in der Verfassung getroffenen Entscheidungen beschränkt; sie darf die Entscheidungen der verfassungsgebenden Gewalt nicht außer Acht lassen.

Rechtsstaat beinhaltet auch die Gewährleistung individueller Rechte. Der Kern der individuellen Rechte ist der Schutz der Menschenwürde. Das Recht auf Freiheit und Gleichheit soll einen solchen Schutz bieten; es handelt sich um Verteidigungsrechte vis-à-vis des Staates, der die Pflicht hat, eine Verletzung dieser Rechte in den gesellschaftlichen Beziehungen, d.h. zwischen gleichberechtigt handelnden Privatpersonen, zu verhindern oder zumindest zu verhindern. Individuelle Rechte, ob sie sich in internationalem, innerstaatlichem, verfassungsmäßigem oder gewöhnlichem Recht manifestieren, haben sich in großer Vielfalt entwickelt. Während nicht alle diese Rechte zu den Mindestanforderungen eines Rechtsstaates gehören, muss ein Rechtsstaat individuelle Rechte umfassen, die Leben und Gesundheit, Eigentum und die Freiheit der Berufswahl, die Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, den individuellen Zugang zu Gerichten und den Schutz vor Diskriminierung gewährleisten. Der Zugang zu den Gerichten darf nicht in einem formalistischen Sinne verstanden werden: Es muss auch ein wirksamer Schutz durch die Gewährung eines fairen Gehörs und der Unabhängigkeit der Gerichte gegeben sein. Da Rechtsstaat, wie erläutert, eine Art bezeichnet, beabsichtigt der Rechtsstaatsbegriff nicht, ein einheitliches Grundrechtsniveau durchzusetzen. Sie schreibt beispielsweise nicht den Umfang des Eigentumsschutzes oder die Art und Weise der Wahrung der Unabhängigkeit der Justiz vor.

Angesichts der gleichberechtigten Koexistenz zahlreicher Personen, die Grundrechte genießen – d.h. Angesichts der Notwendigkeit, die Spielräume des individuellen Verhaltens im Interesse des gesamten Staates zu begrenzen, muss ein Rechtsstaat Regeln für die Begrenzbarkeit individueller Rechte formulieren und auch die Grenzen dieser Begrenzbarkeit definieren. In diesem Zusammenhang ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in einem Rechtsstaat hervorzuheben. Verhältnismäßigkeit erfordert ein Gleichgewicht zwischen verschiedenen Rechten und Interessen. Die Verhältnismäßigkeitsprüfung in einem Rechtsstaat wird nur durch ein solches staatliches Handeln erfüllt, das geeignet ist, ein legitimes Ziel zu fördern, das in dem Sinne notwendig ist, dass es die am wenigsten einschränkende, aber gleichermaßen geeignete Alternative zur Verfügung stellt und das unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände als angemessen angesehen werden kann.

Ein drittes Merkmal des Rechtsstaates ist die Qualität seines Rechts, das die gesamte Rechtsordnung umfasst und nicht nur jene Normen, die sich in erster Linie mit staatlich-individuellen Beziehungen befassen; Die Qualität des Zivil- und Strafrechts ist ebenfalls enthalten. Das gesamte Rechtssystem muss bestimmte Eigenschaften besitzen. Sie muss beispielsweise Anforderungen an normative Klarheit erfüllen, um Rechtssicherheit zu schaffen, denn unbestimmte Normen sind nicht in der Lage, gerichtlich überprüft zu werden. Darüber hinaus muss das Recht bestimmte immanente Kriterien erfüllen, um als Orientierungsinstrument dienen zu können: Es muss frei von Widersprüchen sein und darauf ausgerichtet sein, Kontinuität zu bewahren, ohne den sozialen Wandel übermäßig zu behindern. Es muss von den daran Gebundenen akzeptiert werden können, nicht vielleicht in jedem Detail, sondern in seiner Gesamtheit. Gesetze, deren einzige Aussicht auf Umsetzung in Zwangsmaßnahmen oder deren Androhung bestünde, wären zum Scheitern verurteilt. Das Recht in einem Rechtsstaat muss auf einem Grundkonsens dessen beruhen, was gerecht ist.

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