Franz Schubert war in jeder Hinsicht ein produktiver Komponist. Mit weit über sechshundert Liedern, Partituren von Kammer- und Soloinstrumentalwerken, Symphonien, Musik für die Bühne und verschiedenen Vokalensembles besaß Schubert eine außergewöhnliche Fähigkeit zur musikalischen Komposition. Das Erbe dieser künstlerischen Produktivität ist in den bis heute erhaltenen Manuskripten in seiner unmittelbarsten Form dokumentiert. Während wir Hunderte solcher Manuskripte haben, hat jedes mit seinen unzähligen Details und oft ungelösten Problemen eine faszinierende Geschichte zu erzählen.
Als besonders interessantes Beispiel dient das Schubert-Bifolio im Moldenhauer-Archiv. Die 1815 entstandene Handschrift enthält vier Lieder zu Texten von Gotthard Ludwig Kosegarten (1758-1818)1–„Nachtgesang“ (D314), „An Rosa 1“ (D315), „An Rosa 2“ (D316) und „Idens Schwanenlied“ (D317). Weder der Autor noch eines dieser Lieder ist bekannt, doch das Dokument enthält wichtige Hinweise auf eine rätselhafte Tatsache über Schuberts produktivstes Jahr der Liedproduktion: Von den rund 140 Gedichten, die Schubert 1815 als Lieder vertont hat2, wurde kein Autor außer Goethe häufiger vertont als Kosegarten. Warum widmete Schubert diesem obskuren norddeutschen Dichter so konzentrierte Arbeit?3 Handschriftliche Belege sowie Details in der Textfassung und musikalischen Konstruktion legen nahe, dass Schubert einen Zyklus von zwanzig Liedern zu Kosegartentexten komponierte, die als Set aufgeführt werden sollten.
Auf diese Schlussfolgerung weisen auch Inschriften im Moldenhauer-Bifolio hin. Schauen wir uns zum Beispiel „An Rosa 1“ auf Folio 1 verso an.
Schubert liefert den Titel4 und das Datum der Komposition („19. Okt 1815“) sowie eine Autorenzuschreibung mit dem Hinweis, wie viele Strophen der Strophenfassung („Kosegarten dazu 4 Strophen“) nach dem Ende des Liedes hinzugefügt werden sollen. Die Partitur ist ziemlich sauber, wenn auch nicht ohne Korrekturen. Der Schubert Thematische Katalog bezieht sich auf dieses Dokument und Hunderte mehr wie es als „erste Niederschrift,“5 ein Begriff, der in etwa übersetzt „erste schriftliche Version.“ Während viele solcher Manuskripte erste Versuche Schuberts darstellen, Vollversionen eines Werkes zu schreiben, ging vielen anderen zweifellos eine Art Skizze voraus.
Musikalische Details sind für das Verständnis von Schuberts Kompositionsmethode von entscheidender Bedeutung, doch die Inschriften auf dieser Seite, die nicht vom Komponisten stammen, sind für die Zusammenstellung des Kosegarten-Zyklus ebenso wichtig. Beachten Sie die Randnotizen links, rechts und unterhalb der Partitur sowie verschiedene Nummerierungen und Markierungen in den Ecken und links vom Titel. Praktisch alle stammen von einem gewissen Johann Wolf, einem kleinen Komponisten, der in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts in Wien lebte. Um 1860 erhielt Wolf die Aufgabe, Schubert-Dokumente, die im Archiv des Wiener Verlegers C. A. Spina aufbewahrt wurden, zu katalogisieren und Werke zu identifizieren, die für eine Veröffentlichung geeignet sein könnten.6 Aus Wolfs Inschriften geht hervor, dass er Dutzende, vielleicht Hunderte von Manuskripten durchsortierte und sie so weit wie möglich nach Kompositionsdatum und anderen Kriterien ordnete. Er indexierte auch jedes Lied mit anderen Liedern, die einen ähnlichen Titel trugen, und notierte den Textautor, ihren Speicherort in seinen Dateien und, falls zutreffend, Details zu ihrer Veröffentlichung und Uraufführung. Dies ist die Information, die in den rechten und linken Rand dieser und vieler anderer Schubert-Manuskripte gekritzelt ist.7
Am Ende der Seite gab Wolf detaillierte Informationen zu allen anderen Manuskriptversionen desselben Liedes, wobei er die Art des Manuskripts, die Katalognummer und alle wesentlichen Merkmale feststellte:
“ Eine Kopie (respect. Reinschrift) von Fr. Schuberts Hand vide N 19 Abth IV; diese Kopie hat aber einige Veränderungen u ist in der Anleitung vollständig erhalten“
Wolf warnt uns vor einer zweiten Version des Songs in Fair Copy, die sich geringfügig von der vorliegenden Version unterscheidet. Dies ist bemerkenswert, da der thematische Katalog von Schuberts Werken zwei verschiedene Versionen dieses Liedes nicht erkennt. Das fragliche Dokument, identifiziert durch Wolfs Siglum: „Nr.19, Gruppe IV“, befindet sich heute in Privatbesitz und steht daher nicht für wissenschaftliche Untersuchungen zur Verfügung. Wir können jedoch die veröffentlichte Version des Liedes in der ersten Gesamtausgabe von Schuberts Werken untersuchen8, um zu bestätigen, dass sich das Dokument im Moldenhauer-Archiv von der späteren fairen Kopie in der Schrift für die linke Hand und vor allem in den letzten Takten unterscheidet.
Die wohl nützlichste Information dieser Randnotizen findet sich in der unteren linken Ecke in schwarzer Tinte: nämlich Wolfs handschriftliche Nummerierung. Die hier angegebene Zahl „30“ ist Teil einer fortlaufenden Sequenz, die auf jeder Seite des Bifolios zu finden ist. „Nachtgesang“ auf Folio 1r ist nummeriert 29, mit jedem folgenden Lied nummeriert in sequentieller Reihenfolge durch 32 („Idens Schwanenlied“). Wir wissen aus der Randnotiz, die sich auf „An-2“ bezieht, dass die vorliegende Menge Teil einer Sequenz ist, die kollektiv als „Gruppe II“ bekannt ist.“ Durch die Nummerierung dieser Seiten und die Auflistung weiterer Manuskripte, die sich auf jedes der vorliegenden Stücke beziehen, führt Wolf uns zu der wichtigen Frage, wie das Manuskript in ein größeres Muster passt. Um dieses Problem anzugehen, müssen wir uns die Kosegarten-Einstellungen ansehen, die nicht im Bifolio enthalten sind.
Aus Schuberts handschriftlichen Datierungen geht hervor, dass die zwanzig Kosegarten-Vertonungen von 1815 in zwei konzentrierten Schaffensanfällen entstanden sind: dreizehn im Juni und Juli und sieben am selben Tag im Oktober notiert. Das Moldenhauer-Bifolio bildet den Mittelteil eines einst durchgehenden Autographs, das alle sieben dieser späteren Vertonungen enthält. Kurz darauf fertigte Schubert eine faire Kopie aller zwanzig Lieder an, was auch ein kontinuierliches Autogramm gewesen sein könnte: Jedes der Lieder in dem, was Wolf als „Gruppe IV“ bezeichnete, ist eine Kosegarten-Einstellung; Darüber hinaus nummerierte Wolf diese fairen Kopien als Gruppe nacheinander von „1“ bis „20“, was eine gezielte Sammlung dieser Lieder impliziert. Denken Sie daran, dass „An-1“ die Nummer 19 in der als „Gruppe IV“ bekannten Serie war.“ Beachten Sie auch, dass Wolf an anderer Stelle „Gruppe IV“ als eine Sammlung von Liedern bezeichnet, die Franz Schuberts Bruder Ferdinand gehörten. So lassen die handschriftlichen Belege darauf schließen, dass Schubert 1815 eine umfangreiche Reihe von Kosegartenliedern zusammengestellt hat. Um herauszufinden, warum der Komponist dies getan hat, sollten wir uns die Lieder in der von Wolfs Nummerierung vorgeschlagenen Reihenfolge ansehen. Das Bemerkenswerteste an diesen fairen Kopien ist ihre Anordnung und die musikalischen Affinitäten, die zwischen ihnen entstehen, wenn sie zusammen gruppiert werden. Anstatt die Lieder in der Reihenfolge ihrer Komposition zu kopieren, Schubert platzierte sie in einer neuen Reihenfolge; darüber hinaus offenbart die daraus resultierende Abfolge von Liedtexten stark narrative Tendenzen. Die entstehende Geschichte dreht sich um einen männlichen Protagonisten, dessen verliebte Aufmerksamkeit von einer Frau zur nächsten huscht. Die Gefühle des Abenteurers – Wilhelm – und zweier seiner Geliebten mit gebrochenem Herzen – Ida und Luisa – werden in kurzen strophischen Liedern in den typischen romantischen Vorstellungen von Sehnsucht und Glückseligkeit dargestellt. Wilhelm steht im Zentrum der Sammlung mit zwölf Einstellungen aus seiner Perspektive präsentiert. Seine Lieder, mit Ausnahme der letzten beiden, zeichnen sich alle durch grenzenlose Begeisterung und leidenschaftliche, wenn auch flüchtige Hingabe aus. Die Frauen (Ida–6 Einstellungen, Luisa–2) präsentieren einen ganz anderen Charakter. Zögernd und pessimistisch sprechen ihre Monologe von Angst, Selbstaufopferung und sogar tragischem Pathos.
Kosegarten Messeexemplare Geordnet nach Wolf Katalognummer9
Wolf Nein.: IV/… | D. | Title |
---|---|---|
1 | 240 | Huldigung |
2 | 241 | Alles um Liebe |
3 | 228 | Von Ida |
4 | 229 | Die Erscheinung |
5 | 219 | Das Finden |
6 | 227 | Idens Nachtgesang |
7 | 313 | Die Sterne |
8 | 314 | Nachtgesang |
9 | 230 | Die Täuschung |
10 | 231 | Das Sehnen |
11 | 238 | Die Mondnacht |
12 | 237 | Abends unter der Linde |
13 | 236 | Das Abendrot |
14 | 233 | Geist der Liebe |
15 | 221 | Der Abend |
16 | 317 | Idens Schwanenlied |
17 | 318 | Schwanger |
18 | 319 | Luisens Antwort |
19 | 315 | An Rosa 1 |
20 | 316 | An Rosa 2 |
Dieser Kontrast zwischen männlicher und weiblicher Sicht taucht immer wieder in den Reaktionen der Charaktere auf die Natur auf: Wilhelm findet Trost in der Nacht, während Ida in der Dunkelheit schlimme Zukunftsvorahnungen verspürt. Schließlich enthält eine der Einstellungen („Abendroth“) alle drei Charaktere, die ein Trio zum Lob des Abends und des Sonnenuntergangs singen, einer Tageszeit, die sich im gesamten Set wiederholt und den Übergang von Tag zu Nacht, von Hoffnung zu Verzweiflung widerspiegelt. Am Ende entgeht auch der wankelmütige Wilhelm diesem Schicksal nicht, denn im letzten Lied sehnt er sich nach einer weiteren Frau (Rosa), die nicht mehr seine ist – und trauert um ihren Tod.
Viele Aspekte der einzelnen Lieder unterstützen das Gefühl des Zusammenhalts, das diese dramatische Kontinuität impliziert. Um nur ein musikalisches Beispiel zu nennen, Drei von Wilhelm gesungene Schlüssellieder tragen alle eine unbestreitbare Ähnlichkeit.
Es gibt auch zahlreiche Beispiele für aufeinanderfolgende Lieder, die durch ein gemeinsames Motiv oder eine gemeinsame Textur verbunden sind. „Idens Schwanenlied,“zum Beispiel, Weist eindeutig auf den folgenden „Schwangeresang.“ Beachten Sie die wiederholten Cs in der Stimmzeile von „Idens Schwanenlied“, die auch in der mittleren Stimme der rechten Klavierhand in „Schwangesang.“ Ebenso erscheint die absteigende Bewegung im Klavier von AS über E-dur bis hin zu F in „Idens Schwanenlied“ wieder in der linken Eröffnung von „Schwangeresang.“
Besonders wichtig in diesem Zusammenhang ist der verminderte Akkord bis F-Moll (bei „Nebelflor“ bzw. „offen“), eine Klangfülle, die nicht nur in den beiden obigen Passagen, sondern auch ein herausragendes Merkmal des Abschlusses von „Idens Schwanenlied.“ Diese Klangfülle nimmt im Lied eine noch größere Bedeutung an, als sie im Moldenhauer-Bifolio (auf Folio 2v) erhalten ist, wo die Musik ziemlich abrupt auf oszillierenden Akkorden endet. Erstaunlicherweise wurde diese Version des Songs nie veröffentlicht; es erscheint hier zum ersten Mal. Viel mehr lässt sich über die codekologischen, musikalischen und textlichen Elemente sagen, die auf eine einheitliche Konzeption von Schuberts Kosegartenliedern hinweisen.10 Dass Schubert bereits 1815 eine groß angelegte, zyklische Liedersammlung aufgebaut hatte, wird zweifellos dazu führen, dass wir bestimmte Aspekte seiner Entwicklung als Komponist und sogar der Entwicklung des Genres selbst überdenken. Somit ist das Moldenhauer-Bifolio Teil eines viel größeren Komplexes. Eine inhaltliche Auseinandersetzung zeigt, welchen Informationsreichtum eine Musikhandschrift enthalten kann und welche Implikationen sie für unser Verständnis von Komponisten und ihren Werken haben kann.
— Morten Solvik
Notes
- Der Theologe und Schriftsteller Kosegarten lebte in Pommern, einer damals von Schweden kontrollierten Region. Die wohl beste Biographie über Kosegarten ist bis heute H. Franck, Gotthard Ludwig Kosegarten. Ein Lebensbild (Halle: Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses, 1887).
- Schubert schrieb in diesem Jahr auch reichlich in anderen Genres; sein Schaffen umfasste vier Bühnenwerke – Fernando (D220, abgeschlossen im Juli), Der vierjährige Posten (D190, abgeschlossen im August), Claudine von Villa Bella (D239, wahrscheinlich abgeschlossen im Sommer oder frühen Herbst), Die Freunde von Salamanka (D326, abgeschlossen im Dezember) – zwei Symphonien (Nr. 2 und 3), Dutzende Klavierstücke (einschließlich der Sonaten in E-Dur, D157 und C-Dur, D279) und zahlreiche Chorkompositionen (einschließlich des Magnificat in C-Dur, D , D486, und die Massen in G, D167 und in B, D324).
- Schuberts 20 Kosegarten-Vertonungen von 1815 sind kurze strophische Werke mit einer Länge zwischen 7 und 31 Takten und einer durchschnittlichen Länge von 18 Takten. Obwohl in dieser Figur enthalten, ist eine der Kosegarten-Vertonungen („Das Abendrot“ D236) eigentlich kein Lied, sondern ein Vokaltrio; Schubert setzte nur einen weiteren Kosegarten-Text in seinem Leben, „An die untergehende Sonne“ D457, der im Mai 1817 fertiggestellt wurde. Schubert nahm wahrscheinlich alle diese Gedichte aus der Sammlung L. T. Kosegartens Gedichte. Neueste Auflage, 3 vols. (Berlin: n.p., 1803); beachten Sie, dass Kosegarten auch den Namen „Ludwig Theobul.“
- Die Zahl „1“ wurde später zum Titel hinzugefügt.
- Otto Erich Deutsch, Franz Schubert. Thematisches Verzeichnis seiner Werke in chronologischer Folge, rev. ed. (Kassel: Bärenreiter, 1978), S. 189.
- Es sei darauf hingewiesen, dass Wolf in Archiven arbeitete, die von Anton Diabelli gesammelt wurden. Als Diabelli 1858 starb, wurde seine Firma Diabelli & Co. 1852 an C. A. Spina weitergegeben. Siehe die Einleitung zu Alexander Weinmann, Verlagsverzeichnis Anton Diabelli & Co (1824 bis 1840) (Wien: L. Krenn, 1985).
- In diesem speziellen Fall notierte Wolf auch den Autor des Textes oben auf der Seite unter dem Titel. Obwohl „Kosegarten“ in Schuberts Hand im unteren rechten System erscheint, erleichterte die Referenz oben die Identifizierung beim Sortieren solcher Autogramme.
- Franz Schuberts Werke. Kritisch durchgesehene Gesamtausgabe, ser. 20, vol. 3 (Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1895), S. 145.
- Beachten Sie, dass die untere linke Ecke von A:Wst 6429 einen Wasserschaden hat, genau dort, wo sonst die Zahl „10“ zu finden wäre; das Recto-Blatt ist klar nummeriert „9.“ Die Nummern „14“ und „15“ wurden in einer persönlichen Mitteilung des derzeitigen Besitzers der RS für D233 und 221 bestätigt; Der Autor möchte sich für die freundliche Zusammenarbeit des Eigentümers in dieser Angelegenheit bedanken.
- Eine eingehendere Erörterung der hier angesprochenen Punkte findet sich in „Lieder im gesellschaftlichen Spiel–Schuberts neu entdeckter Kosegarten-Zyklus von 1815“ in der Österreichischen Musik-Zeitschrift 53/1 (Januar 1997), 319.